Ich habe vor längerer Zeit eine Metapher über die Freundschaft entwickelt, weil ich mich gefragt habe, was mir meine Freunde, Familie und Menschen, die ich einfach gern habe, mir bedeuten und was sie für einen Einfluss auf mich haben. Dazu habe ich zwei Beobachtungen gemacht. Die erste: Menschen, die ich lieb habe, bringen mich zum Leuchte. Whoup, Kitsch! Mein Freund. Ich strahle und lache und bin einfach fröhlich oder glücklich, wenn sie um mich sind. Die zweite: Ich bin mit jedem meiner Lieben irgendwie anders drauf. Beide Beobachtungen zusammen, waren der Auslöser für die Diamanten-Metapher: Sie lautete ursprünglich: Stell dir vor, jeder Mensch ist ein Diamant. Jede Persönlichkeit ist ein Diamant. Und jeder Diamant hat seine ganz eigene individuelle Oberfläche. Die Menschen, die uns lieben und die wir lieben, bringen den Diamanten zum Strahlen. Aber jeder Mensch strahlt einen anderen Teil des Diamanten an und lässt ihn anders erscheinen.
Das war der Anfang der Metapher. Sie ist inzwischen gewachsen.
Stell dir vor, alle Menschen sind rohe, ungeschliffene Diamanten. Jeder einzelne ist in diesem Moment exakt gleich viel Wert. Und trotzdem ist jeder einzigartig. Das heißt: Natürlich tragen wir alle schon etwas in uns, wenn wir auf die Welt kommen. Ich habe schon oft einen Satz gesagt, wie, „Da kommt halt auch kein unbeschriebenes Blatt auf die Welt“, wenn es um die Frage der Persönlichkeitsentwicklung geht. Ich bin der Meinung, dass uns nicht nur unser Umfeld, in das wir geboren werden prägt, sondern dass wir gewisse Eigenschaften – welche auch immer – irgendwie schon vor der Geburt haben. Und trotzdem bin ich der Meinung, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Man wird sich über das Diamanten-Bild streiten können – und ich freue mich schon auf die Diskussionen darüber. Aber ich kann mir mit diesem Bild sehr gut meine Welt und meine Einstellung zu ihr erklären.
Ich stelle mir also vor, ein frisch geborenes Baby ist ein Rohdiamant. Jeder Rohdiamant ist von genau dem gleichen Wert. Ich bin ein Rohdiamant gewesen, genauso wie Ed Sheeran, Mahadma Gandhi, Paris Hilton, Donald Trump. Aber auch genauso wie der Penner unter der Brücke, die Putzfrau in meinem Flur, der Müllmann und all die Menschen, die wir vielleicht vor unserer subjektiven Linse als weniger erfolgreich betrachten.
Mein Lebensweg hat die Oberfläche des Rohdiamanten Tanja bestimmt. Manche Einflüsse äußern sich als Schliff. Sie prägen uns deutlich, über einen längeren Zeitraum. Die Erziehung zum Beispiel. Meine Herkunft. Meine Schulzeit. Die Umstände und die Menschen, die mein Umfeld darstellten, in das ich hineingeboren wurde. Meine Umstände und Menschen waren in abstrahierter und keinesfalls vollständiger Aufzählung die folgenden: Einzelkind. Mama und Papa beide in einer großen amerikanischen Firma tätig. Finanziell abgesichert. Reihenhaus. Papa mit Auto-Tick. Mama mit unfassbar großem Herz und Helfersyndrom. Geile Klassengemeinschaft – meistens. Vereinsleben. Familienleben? Abgesehen von der Dreier-Kombo eher weniger. Standard-Urlaube in Tirol, Italien. Hast du dir ein ungefähres Bild von mir machen können? Du wirst wahrscheinlich sagen: Ja. Den Schliff wirst du nachvollziehen und erkennen können. Das glaube ich dir. Was du nicht sehen kannst, ist die ursprüngliche Form des Rohdiamanten und, dass der Schliff sich dieser Form anpassen musste.
Außerdem hat nicht nur der Schliff die Oberfläche des Diamanten geprägt. Jeder Umstand, jede Begegnung, jede Erfahrung, jede Erkenntnis hat eine ganz bestimmte Zeichnung auf der Oberfläche hinterlassen. Manche in Form von Licht, einem Funkeln, oder Schatten, einer dunklen Stelle. Andere als Kerbe, Riss, oder Bruchstelle. Diese Oberfläche – das bin ich. Es ist, was das Leben aus dem Rohdiamanten gemacht hat. Die Metapher ist vielschichtig. Komplex. Ich hoffe, nicht zu komplex. Ich versuche dir alles zu erklären, was ich mir damit erklären kann.
Und wo wir gerade bei Schichten sind: Ich habe ein Bild aus der Ayurveda aufgeschnappt. Ich kann mit Yoga und Esoterik recht wenig anfangen, das habe ich ja schon öfter betont. Aber ich finde auch darin Konzepte oder Theorien, die ich in das Tanja-zentrische Weltbild übertragen kann. Ich habe von diesem Bild nur folgendes behalten: Man geht davon aus, dass es eine reine Form des Menschen gibt, über die sich im Laufe seines Lebens Hüllen legen. Es sollen anscheinend genau sieben sein – an der Stelle bin ich schon raus. Und um an sein ursprüngliches Wesen zu kommen, müsse man es schaffen, diese Hüllen abzulegen. Ich packe das mal in meine Metapher. Dazu bediene ich mich einem weiteren Songtext – Business as usual:
I am not a stranger to the dark
Hide away, they say
`Cause we don’t want your broken parts
I`ve learned to be ashamed of all my scars
Run away, they say
No one will love you as you are
Dieser Songtext beschreibt eine Beobachtung, die meiner eigenen entspricht: Jeder von uns kennt die Dunkelheit – im Sinne von negativen Emotionen. Jeder von uns kennt Trauer, Schmerz, Wut, Hass. Zeige mir einen Menschen ohne negative Emotionen und ich überdenke meine Theorie. Die übrigens beinhaltet, dass es gar nicht das Ziel sein kann, negative Emotionen gänzlich los zu werden. Aber das ist ein anderes Thema. Jeder von uns kennt die Dunkelheit und jeder von uns hat Macken, Risse, Bruchstellen. Aber wir lernen sie zu verbergen. Die meisten Menschen, die ich kenne, streben zumindest in ihrem weiten Umfeld danach, nur das Positive offen zu legen. Instagram, Facebook, Werbung… Überall wird uns nahegelegt, dass alles möglichst positiv, glitzernd, schön, brillant sein muss. Stimmt ja irgendwie auch mit dem Grundprinzip überein: Glück maximieren, Unglück minimieren. Was Unglück und Glück ist – Definitionssache.
Menschen sind paradox: Sie hypen alles, was ihnen hilft, das Unglück zu verdrängen, zu vermeiden, es nicht zu sehen. Aber sie hypen auch alles, was ihnen zeigt, dass sie schwach sein können, dass andere auch schwach sind und das Unglück dazu gehört. Wie sonst, sollte ich mir das Gaffer-Problem, Shit-Storms oder die Sensationslust nach Tragödien erklären?
Aber warum können wir das Unglück nicht anerkennen und offen zeigen? Würde es dann nicht seinen Schrecken verlieren und würde wir nicht umso mehr sehen, dass alle Diamanten – egal welche Oberfläche – denselben Wert haben?
Ich zitiere Julia Engelmann:
Lass man demaskieren und sehen, dass wir gleich sind.
Daraus abgeleitet wage eine Hypothese: Wir lernen, dass unser Dunkel, unsere Narben und die Risse an der Oberfläche unseres Diamanten von unserer Umwelt nicht gesehen werden wollen. Deshalb versuchen wir sie zu verbergen. Durch Hüllen, Schichten, die wir um unseren Diamanten legen. Das Problem ist: Diese Schichten umhüllen den ganzen Diamanten. Es erreicht uns nicht mehr so viel von außen und nicht mehr so viel von uns erreicht das Außen.
Ich habe schon viele Menschen damit schockiert, wie offen ich bin. Bzw. Hüllenlos. Ich erzähle relativ schnell von meinen Verlusten, meinen Fehlern, meinen Schwächen. Weil ich sie eigentlich gar nicht als solche sehe, sondern erkannt habe – es gibt kein objektives Maß, nach dem die Oberfläche meines Diamanten als schön oder hässlich bewertet werden kann. Ob ein Schatten, ein Riss, oder eine Macke meinen Diamanten nicht für ihn perfekt und vollkommen machen – das liegt im Auge des Betrachters. Und ich habe gelernt, dass ich mir unendlich viel Mitgefühl, Begeisterung, Zuneigung und Verständnis erschließen kann – wenn ich offen mit meiner Oberfläche umgehe und sie meinem Umfeld möglichst ungefiltert präsentiere. Das einzige was ich als Regulativ für meine Offenheit brauche ist der wertschätzende und in dem Menschen möglichen Maße unvoreingenommenen Blick für die Oberflächen der anderen. „Es ist so hammer, dass du mich einfach so nimmst, wie ich bin.“ „Du strahlst echt.“ Beides Urteile über mich, die ich mir so erklären kann. Ich nehme meine Oberfläche so wie sie ist und besinne mich darauf, dass alle Diamanten gleich viel wert sind. Egal, wie sie geschliffen wurden und egal, wie viele Hüllen sie um sich aufgebaut haben, um ihre dunklen Seiten zu verbergen. Das versuche ich in jeder Begegnung und jedem Urteil, das ich fälle – weil ich nur ein Mensch bin – zu berücksichtigen. Gleichzeitig leuchte ich durch die echte Zuneigung und Anerkennung meiner Mitmenschen. Die echt sein kann, weil ich echt bin. Authentisch. Zu mir selbst stehe. So könntest du das auch sagen.
Mein Umfeld hat sich selektiert. Weil ich mich so gebe, wie ich bin und die Menschen gegangen sind, oder gehen mussten, weil sie mich nicht so mögen, wie ich bin. Aber das ist okay. Ich habe meine Oberfläche, die einfach manchen nicht passt. Bzw. nicht zu ihrer Oberfläche passt. Plakativ gesprochen:
Sei, wer du bist und sag, was du fühlst.
Denn die, die das stört, zählen nicht
Und die, die zählen, stört es nicht. Theodor Seuss Geisel
Dadurch ist für mich ein Umfeld entstanden, dass mir unfassbaren Halt gibt. Ich bin entgegen dem Eindruck, der durch meine Behauptung entstehen mag, die Erkenntnis über die Unantastbarkeit meines Wertes würde mich über alle Urteile erhaben machen, der Meinung, dass die Urteile meiner Mitmenschen sehr wichtig für mich sind. (Langer Satz, sorry. Zur Not nochmal lesen. Ich bin eine Angeberin in solchen Punkten. J) Und es mag schwierig erscheinen, aber es ist wieder recht einfach.
Gehen wir davon aus, dass ein Diamant eine Fassung braucht, sonst ist er nicht aufgehoben. So im Sinne von: Menschen brauchen Halt. Menschen sind soziale Wesen, sie brauchen Kontakt, Zuneigung, Anerkennung. Menschen brauchen ein Zuhause, Schutz, Nahrung – wie auch immer das aussehen mag. Im Bild des Diamanten gesprochen: Wir brauchen eine Fassung. Ist es nicht spannend, dass es das es die Redewendung sogar gibt? „Die Fassung verlieren“? Ich weiß nicht, was du darunter verstehst. Damit wir eventuell auf einen Nenner kommen, erkläre ich dir, was es für mich – im allgemeinen Gebrauch – bedeutet. Wenn jemand die Fassung verliert, lässt er sich fallen. Er hält sich in diesem Moment nicht an gesellschaftliche Regeln, sondern Emotionen und Meinungen treten ungefiltert und echt – manchmal brutal – nach außen. D’accord so weit?
Menschen brauchen also eine Fassung. So wie ich begründet habe, besteht sie pauschal, abstrakt und wenig hinreichend aus Mitmenschen, Zuneigung, physischer und psychischer Sicherheit… Ich könnte auch die Maslowsche Bedürfnispyramide heranziehen… Aber das ist wieder nur eine Theorie. Gehen wir doch der Einfachheit halber einfach mal davon aus, die Fassung ist das, wonach wir streben. Jeder Mensch strebt nach etwas, oder nicht? Ohne Entwicklung gäbe es kein Leben. Ich will die Fassung auch nicht definieren, denn das kann ich nicht. Meine Theorie lautet nämlich: Die Fassung für den Diamanten, den Menschen, ist seine Lebenswirklichkeit. Himmel, das ist abstrakt. Ich hoffe, ich habe das Bild angemessen herleiten können. Das Ziel des menschlichen Lebens ist es, dass die Fassung möglichst gut zum Diamanten passt. Und jetzt kommt die Krux. Wissenschaftstheorie. Philosophie. Psychologie. Oder einfach gesunder Menschenverstand: Wir können uns nicht von außen sehen. Ich stecke in meinem Diamanten fest. Meine Wahrnehmung, alle meine Sinne sind nach außen gerichtet. Ich kann die Oberfläche meines Diamanten nur in Teilen von innen wahrnehmen und das auch nie so vollumfänglich als würde ich wie ein Satellit von oben über mich kreisen und eine Landkarte meiner Oberfläche zeichnen. Juhu. Eine Sache in der ich mal konform mit der Wissenschaft gehe: Der Mensch kann sich nicht selbst erkennen. Aber es scheint der menschlichen Natur inne zu wohnen, es trotzdem zu versuchen. Ich meine, das wäre ja auch zu einfach. Ich klettere aus meinem Diamanten heraus, schau mir das Ding an und such mir die passende Fassung zusammen. Ein bisschen Job hier, eine Freundschaft da, eine Beziehung hier und ein Hobby da und schon bin ich „gefasst“. Langweilig. Leben ist Challenge.
Und selbst, wenn das funktionieren würde – wenn du deine Fähigkeit dich selbst zu reflektieren, auf einer Leiter auf die Metaebene über dir zu klettern – perfektionieren würdest – bringt ja nix. Der Diamant verändert sich ja ständig. Ich bin ja weiter oben davon ausgegangen, dass alles die Oberfläche prägt. Und das ja auch abhängig davon, wie sie bereits aussieht. Zu komplex? Ich hoffe nicht. Es geht ja gerade erst richtig los!
Ich kann mir mein Leben so trotzdem erklären. Ich bin ein Diamant, der bereits eine Oberfläche hat, die sich aber ständig verändert. Ich brauche eine Fassung – das bedeutet, dass Halt finde. Meine Bedürfnisse befriedige. Glück maximiere. Unglück minimiere. Und jetzt kommst du und sagst: Wenn du die aber verlierst – was passiert dann? Stirbst du?
Das glaube ich nicht. Ich bin nur der Meinung, dass Schritt eins der Bauanleitung für die passende Fassung bzw. Lebenswirklichkeit ist – die Schichten um den Diamanten abzukratzen. Denn wenn das Ziel ist, dass die Fassung am Ende zu dem echten Diamanten passt – dann kannst du nicht mit einem extra dicken Socken in deine neuen Sommerschuhe schlüpfen und dich dann wundern, dass er nicht gut sitzt. Abkratzen. Autsch. Ja, ich bin der Meinung, dass einmal verleugnete Macken, Risse, Bruchstellen wehtun, wenn man die Abdeckung runter reißt. Ich habe aber in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt. Danach passt hat die Fassung nämlich wieder gepasst ohne zu drücken.
Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel: Mich und mein Psychologiestudium. Über ein Jahr hat es mich nur genervt. Ich hole jetzt mal nicht aus um abzukacken. Und aus der Ferne kann ich sage: Jeder einzelne Tag Studium hat sich gelohnt. Bis zu einem gewissen Punkt. Der Punkt war, dass ich beschlossen habe es zu lassen. Warum? Es hat gedrückt. Diese Stelle meiner Fassung, die mein Psychologiestudium repräsentiert, hat ein Jahr lang gedrückt. Am Anfang nicht schlimm. Ich habe versucht mich ein bisschen zu drehen, mich auf andere Teile zu konzentrieren, die angenehmer in der Fassung lagen. Sport zum Beispiel. Im Fitness unterrichten. Freunde treffen. Schreiben. Hat aber auf Dauer nicht geklappt. Ich habe auch versucht meine Oberfläche zu ändern. Bullshit. Hat auch nicht geklappt. In meiner Hüllenlosigkeit saß nämlich mein Warnradar für nicht passende Teile der Fassung da und war übermächtig: Negative Emotion. Wut. Hass. Aggressivität. Ich kam aus einem Seminar und hätte mich stundenlang aufregen könne. Ja klar gibt es wichtigeres im Leben. Aber ich habe es akzeptiert. Ich habe auf das Warnradar gehört und mich damit auseinandergesetzt, wie die Stelle eigentlich aussieht, die ich gerade in die Fassung namens Psychologiestudium quetschen will. Ich habe meine Motive hinterfragt, meine Ziele. Ich habe mir überlegt, was mich glücklich macht. Wer ich bin. Was ich brauche. Wie ich mir die Fassung für diesen Teil meines Diamanten vorstellen kann. Zack. Shit. Studium passt gerade nicht. Verdammt. Aber meine Außenwelt – zu der komme ich gleich nochmal – spiegelt mir, dass dieser Teil doch eigentlich zu mir passen sollte. Tut er aber nicht. Kann ich nur aus meinem subjektiven Diamanten Dasein beurteilen. Nicht von außen. Aber ihr von außen könnt nicht aus mir herausfühlen – und das ist in dem Fall was zählt. Also habe ich mich hingestellt, den Teil der Fassung – nicht ohne so manchen Zweifel – abgelegt. Jetzt bin ich gerade dabei eine neue zu bauen. Geld verdienen mit dem was ich gut kann. Idealistisches Ziel. Ich berichte dann, ob es geklappt hat.
Weißt du was? Das Ablegen von nicht passenden Fassungen ist einfach, als du vielleicht denkst. Wenn du weißt, warum du sie ablegen musst und dir sicher bist, dass du sie ablegen musst. Dann kann deine Außenwelt dir nämlich nichts. Okay, das ist jetzt vielleicht echt ein bisschen einfach und pauschal. Es gehören ein paar Voraussetzungen dazu, dass es einfach ist. Das selektierte Umfeld zum Beispiel. Wenn mein Umfeld nicht die wahre Oberfläche kennt, aber ich auf einmal dieser Oberfläche nach handle – kommt das komisch. Oder? Wir streben doch nach größtmöglicher Kongruenz, Logik, Nachvollziehbarkeit. Noch so eine unnötige menschliche Eigenschaft. Hab ich auch. Könnte weg. Hätte ich mir schon so manchen neuronalen Marathon erspart, wenn ich einfach drauf sch*en und alles total unverstanden so stehen lassen könnte. Kann ich aber nicht. Du?
Dazu gehört auch noch mein Selbstwert. Also das mit dem Rohdiamanten vom Anfang.
Außerdem, musste ich meine Fassung so bauen, dass sie nicht nur aus einem Stück besteht. Anstrengend manchmal. Jeder Tag hat immerhin nur vierundzwanzig Stunden. Runtergebrochen gesagt, bestand meine Fassung zum Zeitpunkt des Umbaus aus einer Beziehung, viel Zeit und Gesprächen mit Freunden, Sport und Unterricht im Fitti, dem Studium. Das sind alles Dinge, die mir Halt gegeben haben. Aber der letzte Teil der Aufzählung hat halt nicht mehr gepasst, musste ich mir eingestehen. Wollte ich nicht. An meiner Oberfläche erkannte ich nämlich einen Schliff namens Ehrgeiz. Durchhaltevermögen. Ich dachte, es würde nicht zu mir passen das Studium nicht durchzuziehen. Ich habe ja immer alles zu Ende gebracht und das auch noch mit guten Noten. Ich kann auch erst jetzt im Nachhinein vollumfänglich verstehen, warum die Fassung gedrückt hat. Aber ich könnte dir jetzt erklären warum. Soll ich? Würde das hier wahrscheinlich unnötig in die Länge ziehen. Es geht ja schlussendlich darum: Wir haben ein ziemlich gut funktionierendes Radar für die Passung unserer Fassung zu unserer Oberfläche. Unsere Emotionen. Emotion positiv: Passt. Emotion negativ: Passt nicht. Ziemlich einfach. Zu einfach. Das Problem ist, das wir Menschen nicht einzelne Mini-Stücke nehmen können, um die Fassung zu bauen. Wir haben Systeme entwickelt um es uns einfacher zu machen. Schule, Uni, Job… Alles Systeme. Muss ich den Begriff System erläutern? Ein Mensch in einem Umfeld ist ein System. Das reicht zum Verständnis. Und weil es Systeme sind, die für viele Leute passen sollen – können sie zu einem einzelnen Menschen nie perfekt passen. Also besteht die Kunst für mich darin, die bestmöglich passende Fassung zu finden. Perfekt kann sie nie sein. Wie auch! Meine Oberfläche verändert sich ja auch noch ständig.
Ich beobachte allerdings ein Problem. Menschen scheinen sich schlecht eingestehen zu können, dass ein Teil der einmal gewählten Fassung nicht zu ihnen passt. Und je länger sie darin bleiben – nehmen wir mal einen Job, der dir eigentlich keinen Spaß macht (plakatives Beispiel, muss reichen) – desto schwerer wird es sie abzulegen. Lieber versuchen wir unseren Diamanten zu schleifen, uns zu verbiegen – was nie gut gehen kann. Oder wir legen eben Hüllen um unsere Schwachstellen um besser ins System, ins Schema, ins Bild zu passen.
Mich entlastet aber die Erkenntnis: Ich kann nie perfekt passen. Weil ich nicht perfekt sein kann. Weil es aus meiner Perspektive perfekt nicht gibt. Das ist ein subjektives Urteil. Es gibt also nur subjektiv perfekt. Und wir kann ich subjektiv perfekt erkennen? Mit Gefühl. Subjektiv perfekt, oder auch nur gut, angenehm, passend, kann ich nur durch mein Gefühl erkennen. Womit wir wieder bei unserem Passungs-Radar sind. Positive und negative Emotionen. Wir wollen die positiven maximieren. Aber ohne die negativen können wir die positiven nicht haben. Plakativer Satz. Ohne den Regen wüssten wir die Sonne nicht zu schätzen. Ja ja, danke. Das habe ich jetzt verstanden, nachdem ich 23 Jahre lang gesammelt habe um diese Metapher und diese Erklärung zu finden. Ich will also positive Emotionen. So viele wie möglich. Im Sinne von: Meine Fassung, meine Lebenswirklichkeit soll perfekt zu meinem Diamanten – meinem echten Ich passen. Das wird aber nie klappen. Weil es keine perfekte Fassung geben kann und es keinen perfekten Diamanten geben kann. Sondern nur die maximal mögliche, aber nie vollkommene Passung. Die kann ich nur erreichen, indem ich mein Radar perfektioniere. Das bedeutet, dass ich in erster Linie meine Gefühle zulasse. Negative Emotion: Da passt was nicht. Aber das alleine reicht nicht. Ich benutze meinen Kopf, sonst bringt mir die Emotion nichts. Gehört ja auch zusammen – Kognition, Emotion und so. Ich frage mich: Zu welchem Teil der Fassung gehört die Ecke, die gerade drückt? Studium. Okay. Dann frage ich mich: Warum drückt es? Das ist meistens nicht schwer zu beantworten. Im Zweifel frag die Leute bei denen du dich auskotzt oder ausheulst. Dritte Frage: Kann ich daran etwas ändern? FALSCH! Urteilsalaaaaarm!!! Ja sorry, okay anders. Nicht falsch. Aus der Tanja-zentrischen Perspektive falsch. Denn ich glaube, dass du dich dann verbiegst, wenn du dich fragst, ob du etwas ändern kannst. Klar, manchmal geht das. Also wenn mich zum Beispiel nur eine spezielle Dozentin zur Weißglut bringt, dann geh ich halt im nächsten Semester nicht mehr in ein Seminar zu ihr. Aber bei solchen Dingen schlägt mein Radar meistens gar nicht so laut Alarm. Es schlägt dann laut Alarm, wenn die Fassung schon eine Weile drückt und ich nicht hinschaue. Und dann ist es meistens so, dass ich nicht so einfach etwas ändern kann. Im Sinne von Schicht drunter, abschleifen oder ignorieren. Was ich mich stattdessen frage, ist: Überwiegen die positiven Emotionen, gegenüber den negativen? Bringt dieses System mir mehr Halt, als Druckstelle oder Instabilität? Wenn ja, habe ich die Wahl in dieser Fassung zu verharren, oder sie zu verlieren. Für kurz. Um dann wieder eine neue zu bauen. Dafür muss ich natürlich daran glauben, dass ich das kann…
Oh je, es gehört wohl doch ganz schön viel dazu ein Diamant zu sein und seine möglichst perfekt passende Fassung zu finden. Aber aufgeben – das würde mir nicht stehen. Und dir auch nicht.
Man soll keine Ratschläge geben. Ich tu es an dieser Stelle trotzdem.
Trau dich, die Fassung zu verlieren. Vielleicht nicht im Sinne dessen, dass du deinen Job, dein Studium, deine Beziehung, hinschmeißt. Versuch es im Kleinen. Verlier sie gegenüber Menschen, denen du vertraust und beobachte, was mit deinem Umfeld geschieht. Leg vielleicht eine Fassung ab, bei der es keine großen Risiken für dich gibt: Ein neues Hobby suchen zum Beispiel. Der Witz ist nämlich: Du musst deinem Radar vertrauen. Deinen Gefühlen. Dir selbst. Du musst. „Ge‘ pfui, Tanja, das würdest du so auch nicht annehmen!“ Okay. Ich habe das nie verlernt, ich habe immer auf mein Herz gehört. Oft konnte ich mir erklären, wo mein positives oder negatives Gefühl herkam. Manchmal auch nicht. Und ich habe immer öfter Entscheidungen getroffen, auch wenn ich kognitiv nicht ganz nachvollziehen konnte, was emotional abging. Bei mir hat es sich meistens als die richtige Entscheidung herausgestellt. Was ich vielleicht auch nur so sehen kann, weil richtig ja wieder Gefühlssache ist und ich meine Entscheidungen einfacher akzeptieren kann, wenn ich sie auch in maximaler Übereinstimmung mit meinen Gefühlen getroffen habe?
An dieser Stelle sollte ich schließen. Ich habe meine Fassung schon oft verloren, aber sie wurde dadurch immer nur besser. Ich hoffe, dass du diese Erfahrung auch machst.
Carl Rogers (Faaaaan!), der Begründer der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie (Psychologie forever… #not), ist der Meinung, dass („Aktualisierungstendenz“ sowie „Bedürfnis nach bedingungsloser positiver Wertschätzung“).