Auch wenn ich im Moment lieber einen Shit-Storm auf das Schicksal anzetteln würde. Ich weiß nicht, ob du an Schicksal glaubst. Ich weiß ehrlich gesagt selbst nicht, ob ich an Schicksal glaube. Ich habe den Eindruck, es existieren sehr unterschiedliche Definitionen bzw. Einstellungen zum Schicksal. Google sagt, Schicksal ist „von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, was sich menschlicher Berechnung und menschlichem Einfluss entzieht und das Leben des einzelnen Menschen entscheidend bestimmt“. Aha. (Anmerkung: Ja ich nutze auch manchmal Google. Tatsächlich oft für solche Begriffe, weil ich eben meine sehr subjektive Definition dazu habe und mich interessiert, was die generalisierte Auffassung im World Wide Web dazu ist. Psychologiestudenten sind nicht allwissend, auch nicht was solche Begriffe angeht. Anmerkung Ende.) Wenn wir mal den ersten Teil der Definition missachten – dann stimme ich voll und ganz zu. Ich habe schon viel erlebt, nein ich erlebe jeden Tag Dinge, die sich meiner Berechnung und meinem Einfluss entziehen. Und die sich auch dem Einfluss von anderen Menschen entziehen. Ob jemand Krebs bekommt zum Beispiel. Ob ein Kind stirbt, ein Unfall auf der Autobahn geschieht. Aber wir wollen auch die schönen Dinge nicht vergessen: Dass sich zwei Menschen treffen, die einander lieben lernen. Dass eine Frau schwanger wird. Dass… Nun ja. Als Naturwissenschaftlerin muss ich sagen: Klar kann man das alles erklären. Wenn man genug Variablen mit einbezieht, kann man sicher begründen, warum jemand krank wird, sich zwei Menschen begegnen. Aber trotzdem habe ich so oft das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber bestimmten Umständen. Und ich glaube das ist der Punkt. Deshalb zum ersten Teil der Definition von Schicksal: Ich glaube, das ist nicht der Punkt. Es mag sein, dass Schicksal die spezielle Bezeichnung ist für Menschen, die diese Machtlosigkeit empfinden und gleichzeitig an eine „höhere Macht“ glauben. Vielleicht ist für manche diese höhere Macht der Zufall. Für manche ist es Gott. Und für wieder andere sind es die wirren, aber doch – wenn man alle Variablen kennen würde – logisch nachvollziehbaren Zusammenhänge der Natur.
Ich muss erst einmal kurz nachdenken, wo ich in diese Frage stehe.
Ich habe auf jeden Fall schon dieses Gefühl der Machtlosigkeit erlebt. Ich erlebe es immer wieder. Manchmal sind es kleine Dinge, die mich sauer, oder wütend machen. Wo ich aber beschließen kann, dass es nichts bringt mich darüber zu echauffieren. Zum Beispiel, dass das ganze Gesundheitssystem in Deutschland so viele Mängel aufweist. Oder das Bildungssystem. Es bringt nichts mich darüber aufzuregen, weil es eben so ist. Der Naturwissenschaftler würde wohl auch sagen: „Quatsch, das ist doch menschengemacht und deshalb hast du auch einen Einfluss darauf. Es entzieht sich nicht deiner Berechnung.“ Der Schicksalsgläubige könnte erwidern: „Nun ja, aber es ist dein Schicksal, dass du in dieser Gesellschaft und in einer Position lebst, aus der du diese Dinge nicht verändern kannst.“ Okay, das Beispiel hinkt vielleicht ein bisschen, weil ich von zwar menschengemachten, aber sehr großen Zusammenhängen spreche, die von einem einzelnen nicht verändert werden können. Aber Veränderungen können angestoßen werden. Von einzelnen. Also ist man nicht machtlos, auch wenn man sich so fühlt.
Es gibt aber eben auch größere Dinge, Tragödien. In jedem Leben. Jeder wird im Laufe seines Lebens (wenn nicht – Glückspilz!) in seinem nächsten Umfeld, oder auch bei sich selbst, mit Krankheit, Tod oder sonstigen lebensbedrohlichen Umständen konfrontiert. Wäre ja auch komisch, wenn der Mensch – zwar vernunftbegabt, aber eben trotzdem noch emotional genug – gegenüber solchen Umständen nicht ins hadern kommen würde. Ich habe neulich in einem Buch ein Zitat gelesen. Ich weiß leider nicht von wem es stammt und ich kann es nur sinngemäß wiedergeben. Es hat mich sehr entlastet zu lesen: „Wenn ihre Tochter sich im Alter von elf Jahren erhängt hat, dann wären Sie krank, wenn sie keinen Zusammenbruch hätten.“ Danke, dass es Menschen gibt, die erkennen, dass sehr intensive Emotionen bei bestimmten Umständen „erlaubt“, oder auch normal sind. Und wenn einem Menschen so etwas wiederfährt – wenn ein Kind stirbt, ein naher Verwandter erkrankt oder sonst eine andere Tragödie geschieht – dann ist es vielleicht auch gut, sich machtlos zu fühlen. Ich glaube, es hilft. Also mir hilft es. Denn es schützt mich davor, meine Energie zu verschwenden für was ich nicht beeinflussen kann. Denn es gibt Dinge, die wir nicht aktiv beeinflussen können.
Und jetzt komme ich zu meiner eigentlichen Frage, die ich mir Stelle. Ich reduziere das Schicksal jetzt mal auf das Gefühl der Machtlosigkeit. Denn mit Gefühlen kann ich etwas anfangen. Da bin ich auch ganz Naturwissenschaftlerin und weiß, dass – auch wenn wir sie manchmal nicht nachvollziehen können – Emotionen haben ihren logischen Ursprung und ihren Sinn.
Wo ist der Grad, zwischen „aufgeben“ und Dinge passiv annehmen – was ich auch bei vielen Dingen nicht gut finde, selbst wenn sie sich meinem Einfluss entziehen. Kann man abstumpfen, wenn man zu oft mit diesem Gefühl konfrontiert ist, einfach keinen Einfluss zu haben? Ich meine in Kurzversion entstehen so ja – weit gefasst - Depressionen. Menschen haben über eine lange Zeit das Gefühl, dass sie nicht genügen, nichts tun können, keinen Einfluss haben. Sie müssen abstumpfen, weil man das Gefühl der Machtlosigkeit nicht lange ertragen kann.
Aber sich nicht machtlos und schwach zu fühlen – vor allem Tragödien gegenüber – das wäre ja auch unmenschlich. Wie gesagt, es hilft ja auch, den eingeschränkten Handlungsspielraum, den wir als einzelner Mensch manchmal haben, zu erkennen.
Also, wo ist die Grenze? Sicher ist sie unterschiedlich und sicher gibt es einen individuellen Umfang, je nach Person und Umstand, wie lange man das Gefühl der Machtlosigkeit am besten zulässt, aber es doch schafft weiterzumachen. Und individuelle Strategien. Vielleicht ist das eine universelle Lebensaufgabe für jeden von uns. Mit seinen Umständen so zu leben, dass er nicht zu viel Energie den Dingen opfert, an denen er nichts ändern kann. Aber auch dort nicht aufgibt, wo er etwas ändern kann. Vielleicht geht es darum, ein möglichst präzises kognitiv-emotionales Erkennungssystem zu entwickeln, dass Lebensumstände, denen gegenüber wir uns zunächst machtlos oder schwach gegenüber fühlen, einteilt in a. „Musst du akzeptieren. Kannst du nicht ändern. Finde dich damit ab. Lenke dich ab. Mach einfach weiter.“, b. „Okay, sie es ein – du kannst etwas dagegen tun. Steh auf und kämpfe.“ oder, c. „Tu, was du tun musst, damit du noch in den Spiegel schauen kannst. Aber sei dir immer bewusst, dass es viel zu viele Faktoren gibt, die du nicht beeinflussen kannst. Also auch wenn es nicht hilft, was du tust – es ist nicht deine Schuld. Aber du hast getan, was du konntest.“ Ich meine sogar, jeder hat so ein Erkennungssystem. Allerdings ist es wie Google. Es merkt sich alles und verändert seinen Entscheidungsalgorithmus für Reaktion a, b oder c, je nachdem welche davon bisher am besten funktioniert hat. Denn ich habe den Eindruck, es gibt einen „Typ“ a, b, oder c. Ich denke, ich bin in den meisten Fällen Typ c. Das kommt von den Erfahrungen, die ich gemacht habe z.B. mit meinem kranken Dad. Da hat das sehr gut funktioniert. Ich habe aber auch eine sehr gute Freundin, die ist in den allermeisten Fällen Typ b. Und ein Freund ist eher Typ a. Ich kann aber auf Grundlage ihrer Lebensgeschichte auch beide verstehen.
Gut, worauf will ich jetzt hinaus? Denn ich dürfte mich auch nicht Psychologin schimpfen, wenn ich sagen würde: „Wir sind der Natur unseres kognitiv-emotionalen Erkennungssystems ausgeliefert und reagieren darauf basierend auf unsere ‚Schicksalsschläge‘ / unsere Machtlosigkeit.“ Man kann ja an dem Erkennungssystem arbeiten und es lässt sich verändern. Vielleicht muss ich noch Erfahrungen machen, bei denen mein Typ c. nicht funktioniert. Und jetzt?
Jetzt schließe ich mit der Antwort auf die Frage, warum dieser Text eigentlich „eine Ode an das Schicksal heißt“. Schicksal ist für mich hiermit definiert als: „Umstand, der Menschen große Trauer, emotionalen Schmerz und das erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit bereitet.“ Ich denke, diese Definition wird der Dramatik des Wortes halbwegs gerecht. Manche Schicksale sind schrecklich. Ich wünsche keinem, dass er das erleben muss, was ich mit meinem Dad erlebt habe. Ich wünsche mir selbst aber auch, das Schicksal von anderen nicht erleben muss. Ich möchte das Schicksal auch nicht verherrlichen. Dazu hasse ich es gerade selbst viel zu sehr. Aber ich finde doch so viel, was mich am Schicksal fasziniert und was mich glauben lässt, dass es zum Leben dazu gehört. Ich hinterfrage vieles. Ich lerne mit Gefühlen umzugehen. Ich lerne mich in meinen schwächsten und stärksten Momenten kennen und ich sehe immer wieder, wie viel wunderbare Empathie, Hilfsbereitschaft und Kraft in jedem Menschen steckt. Natürlich sind Krankheit, Tod, oder sonstige Tragödien Umstände, die wir alle vermeiden wollen. Aber doch zeigen sie mir auch jedes Mal Fassetten der menschlichen Natur, die mich staunend und ehrfürchtig zurücklassen.
Und an dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich in meinem Schicksal und meinen schwachen Momenten begleitet haben. Ganz viel Liebe für euch.