Ich finde einen Zettel in meinem Briefkasten: „Sie können Ihr Paket in der Filiale abholen.“ Juhu! Meine Schuhe! Also schnappe ich mir meine Kopfhörer, ziehe die Mütze über den Kopf und laufe beschwingt zum Takt der Musik durch meinen Stadtteil Richtung Post. Es ist ein eiskalter Morgen, aber zwischen den Wolken lugt vorsichtig das Blau hervor und die Kälte macht mich wach, meinen Verstand klar. „I am shouting from the rooftop, baby“, singe ich und grinse nur noch mehr als ich bemerke wie mich ein Radfahrer verwirrt anstarrt. Sorry für die Emotionen, die wollen bei mir leider raus. Da müssen die Mitmenschen halt durch.
Als ich allerdings die Post betrete, bin ich diejenige, die Emotionen abbekommt. Und zwar keine guten. Ich muss nicht viel hören um zu bemerken, dass es an der Theke Stress gibt. Ein Mann steht dort, den Rücken zu mir. Eine Ausstrahlung wie ein wütender Stier. Vor ihm steht die junge Postangestellte. Ich kann sie nicht sehen, aber mein Gefühl ist von einer Sekunde auf die andere nicht mehr bei mir. Sondern bei ihr. Dieser Kerl strahlt eine Aggressivität aus, dass ich nicht wie bei anderen Menschen bis auf ein paar Schritte an die Diskretionslinie und ihn herantreten kann. Ich halte Abstand. Das unbehagliche, in die Enge getriebene Gefühl der jungen Frau, die ich nicht mal sehe, schwappt auf mich über. Es ist als würde ich an ihrer Stelle stehen. Ich bekomme Wortfetzen mit. Mehr von ihm. Die junge Frau weiß anscheinend nicht was sie sagen soll. Sie macht allerdings Dienst nach Vorschrift und bleibt sich treu. Es geht irgendwie um eine Briefmarke. Sie kann wohl nicht nachvollziehen, ob diese schon entwertet wurde. Der Mann hat entweder die Möglichkeit jetzt sofort eine neue zu kaufen – für einen Euro und fünfzig Cent – oder mit einem Beweis über die Gültigkeit der Marke wiederzukommen. Ausrasten ist gar kein Ausdruck. Ich spüre, wie die Wut in mir hoch kocht. Ich hasse Respektlosigkeit, ich verabscheue mangelnde Wertschätzung und ich hasse Menschen, die bei Konflikten die Augen vor diplomatischen Lösungen versperren. Ich möchte diesem Typen nicht begegnen, wenn es um Wichtigeres geht als eine billige Briefmarke. Ich stehe da. Bin total angespannt. Mein Kopf zischt auf die Metaebene und ich denke noch in der Situation, wie extrem empfindlich ich doch auf die Atmosphäre zwischen Menschen und offen zur Schau getragene Emotionen reagiere. Der Typ lässt nicht locker. Er merkt nicht mal, wie er den ganzen Laden aufhält. Es ist ihm egal. Mich überkommt der Impuls einzugreifen. „Hier, nehmen sie mein Geld. Wegen einem Euro fünfzig so einen Aufstand zu machen!“, würde ich am liebsten sagen. In dem Moment löst sich allerdings die Situation auf. Der Kerl knallt der jungen Frau das Geld mit Schwung auf den Tresen und sagt wutschnaubend, dass er das eine Frechheit finde. Sie weiß sich nicht mehr anders zu helfen und lacht. Ist zwar in Anbetracht der Wut des anderen auch nicht gerade wertschätzend, aber ich kann sie sehr gut verstehen. Es gehört viel dazu, in solchen Situationen ruhig und diplomatisch zu bleiben – vor allem wenn man so persönlich angegriffen wird. „Na, dass ihnen das scheiß egal ist, das glaube ich gleich. Eine Frechheit!“ Empört verlässt der Aggressor die Filiale. Ich atme auf und versuche den leidlichen Rest des Freudestrahlens, mit dem ich den Laden betreten habe in ein Lächeln zu packen, um es der jungen Frau zu schenken. Sie lächelt zurück. „Ich hoffe, das passiert ihnen nicht zu oft!“ Sie zuckt die Schultern und holt mein Paket. Sie will nicht darüber sprechen. Ich verstehe das. Aber immerhin hat sie zurück gelächelt.
Ich verlasse den Laden. Unter meiner Wut, was für brutale und ungerechte Menschen es gibt, mischt sich auch Besorgnis darüber, dass die Menschen das Unangenehme immer totschweigen. Die junge Postangestellte schluckt den Ärger herunter, lacht ihn weg. Klar, kann man nicht immer komplett offen alles an die Oberfläche holen. Aber man sollte es hochholen. Ungefiltert. Nur nicht ungefiltert äußern. Das Unrecht und die mangelnde Fairness ausdrücken wäre aber dennoch meistens von Vorteil. Sonst ändert sich ja nie etwas. Der Aggressor wird so immer nur weiter bestätigt. Wie habe ich das neulich am Telefon zu einer Freundin gesagt: „Wenn man einem arroganten A*** nie sagt, dass er ein arroganter A*** ist, wird er immer einer bleiben.“ Nur wie man es sagt… Das ist eine gute Frage.
So stiefle ich wieder zurück. Langsam kommt meine gute Laune wieder, auch wenn mich der eine dringliche Gedanke mal wieder verfolgt: Meine Profession hätte so viel zu tun. Überall ist die Psychologie. Überall, wo Menschen sind. Und an den wichtigsten Stellen wird sie vernachlässigt. Man versteckt sich lieber hinter Fragebögen, Zahlen, Wissenschaft. An der Theke meiner Postfiliale, wo sie tagtäglich dringend gebraucht würde und einen riesen positiven Einfluss auf den gesunden Alltag der Menschen haben könnte – kommt nichts an.
Doch das Universum schenkt mir ein grandioses Gegenbeispiel, das mir wieder Mut macht und mir zeigt – es lohnt sich, den Gedanken niemals aufzugeben, dass alles gut werden kann. Menschen können so cool sein und es gibt verdammt viele gute von dieser Sorte. Nur das menschliche Gehirn neigt eben doch immer wieder zu Verzerrungen. Vor allem in dem Sinne, dass ein negatives Beispiel gewichtet wird, wie zehn positive Beispiele.
Ich will noch Blumen kaufen. Drei rote Rosen für meine Wohnung. Ich liebe Blumenläden. Bisher habe ich durchweg nette Menschen dort getroffen. Ich erinnere mich an die offene und herzliche Verkäuferin, die mich letztes Mal bedient hat und freue mich, als ich sie hinter der Ladentheke erspähe. Sie grüßt mich schon als ich weit von ihr entfernt durch die Türe trete. Ich bleibe neben den Schnittblumen stehen. Sie eilt zu mir. Wir strahlen uns an. Auch wenn ich sie nicht gut kenne, erst einmal von ihr bedient wurde – wir haben gegenseitig bleibenden Eindruck bei einander hinterlassen. „Noch ein frohes neues Jahr für Sie! Auch wenn es schon etwas älter ist“, sage ich. „Oh ja, vielen Dank! Gleichfalls!“ „Gut reingerutscht?“ „Ja, unspektakulär, aber schön.“ Ich mag sie einfach. Sie hat kurze schwarze Haare, eine Brille, wache Augen voller Lachen. Alles was sie sagt, hat einen leicht trockenen, aber äußerst humorvollen Unterton. So entsteht aus unserem Gespräch über die passenden Blumen für meine Wohnung schließlich ein persönliches. „Es gibt schon richtig doofe Kunden oder?“, platzt es aus mir heraus, während sie meine Blumen einwickelt. Gespannt schaut sie mich an: „Ja ziemlich… Warum?“ Ich berichte von meinen Erlebnissen bei der Post. Sie pflichtet mir bei und berichtet aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz: „Ich glaube, die meisten Menschen sind einfach unzufrieden mit sich selbst und ihrem Job, haben wenig Freude und Erfüllung in ihrem Leben. Und dann kriegt es die kleine Dumme hinter der Ladentheke ab.“ Ich bin fasziniert – nicht nur von ihrer reflektierten Einschätzung, sondern vor allem, weil sie dieses Urteil keineswegs verbittert und schonungslos fällt. In ihrer Stimme schwingt vielmehr Mitleid. Ich interessiere mich weiter für ihre Sichtweise und berichte, dass ich selbst schon auf der anderen Seite stand. Ich habe nach meinem Abi zwei Sommer lang im Einzelhandel, aber auch in der Gastronomie und der Marktforschung gearbeitet. Meine eigenen Erfahrungen daraus machen mich meiner Meinung nach zu dem verständnisvollen und wertschätzenden Kunden, für den ich mich selbst halte. Perspektivwechsel sind so wichtig. „Kennst du diese Leute, die dir einfach die Energie rauben? Nicht einmal, weil sie nörgeln oder Ärger machen. Sondern einfach, weil sie da sind und ein Gesicht ziehen wie sieben Tage Regen. Du strahlst sie an und zack – weg ist dein Lächeln, aber sie strahlen auch nicht?“ Oh ja, die kenne ich. Ich erkenne meine eigenen Gedanken wieder, den Grund, warum ich nicht Therapeutin werden wollte und auch den Grund, warum ich nicht einfach im Einzelhandel arbeiten könnte. Ich würde früher oder später abstumpfen und das will ich nicht. Ich fühle mich dieser herzlichen Person auf einmal sehr verbunden. Sie bestätigt diese Verbindung durch einen Satz, den ich selbst schon oft gesagt habe: „Weißt du, das Schönste für mich ist, wenn Kunden hier hereinkommen und total schlecht drauf sind – und sie dann aber doch mit einem Lächeln und guter Laune den Laden verlassen. Das liebe ich an meinem Job.“ Mein Herz hüpft. „Ich bin übrigens Tanja.“ Ich strecke meine Hand über die Theke. Sie strahlt mich an. „Svenja, voll schön!“ Wir quatschen weiter. Und über was wohl? Die Psychologie. Ich nehme Bezug auf das, was sie an ihrem Job so liebt: Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. „Weißt du, Svenja, aus diesem Grund habe ich begonnen Psychologie zu studieren. Weil ich genau die gleichen Beobachtungen gemacht habe wie du. Weil mich Menschen total faszinieren und weil ich nichts erfüllender finde, als das Schöne im Leben zu teilen.“ Moment kurz. Wir stehen in einem Blumenladen und philosophieren dermaßen tief über das Leben – aber wir haben total Spaß dabei. Das Gespräch driftet ab in Richtung Therapie, Beziehungserfahrungen, gesellschaftliche Muster und Normen. Und dann läuft ein weiterer Kunde die Türe rein, während ich gerade frage: „Kennst du ‚Das Café am Rande der Welt‘ von John Strelecky?“ Es passt wie so oft einfach zur Thematik. „Ja! Das liegt in meinem Nachtisch und ich komme einfach nicht dazu es zu lesen. Aber jetzt muss ich! Wenn du das nächste Mal kommst, unterhalten wir uns darüber.“ Ich verlasse den Laden mit einer tiefen Freude. Keine Spur mehr von meiner Wut und meinem Zweifel. Wie wunderbar dieses Leben doch ist, wenn man Emotionen in ihrer vollen Wirkung auskosten kann und sich mit ihnen seine Umwelt erschließt. Sie sind überall und sie sind greifbar. Sie dienen uns als Signale, wo etwas schiefläuft, aber auch, wo etwas gut läuft. Ich beschließe, während ich wieder lächelnd über die Bürgersteige nach Hause tanze, dass ich den Rest meines Lebens auf meinen zuverlässigen Kompass vertrauen will: Meine Gefühle.